Grußwort des Ersten Stellvertretenden Bürgermeisters der Stadt Rees, Bodo Wißen, anlässlich der Eröffnung der „1. Interkulturellen Tage Rees“ am Freitag, 30. September 2022, 18 Uhr im Bürgerhaus in Rees
Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Sebastian Hiller – vielen Dank für die Einladung,
im Namen von Bürgerschaft, Rat und Verwaltung begrüße ich Sie und Euch ganz herzlich hier im Bürgerhaus der Stadt Rees zur Eröffnung der „1. Interkulturellen Tage Rees“.
Heute, am 30. September, ist der „Tag des Flüchtlings“. Ich weiß, dass viele lieber „Geflüchtete“ sagen und in der Tat klingt das auch nicht so verniedlichend. Denn niedlich ist an einer unfreiwilligen Migration, also an einem – wie auch immer – erzwungenen Verlassen der Heimat, wahrlich nichts. Das englische Wort „refugee“ trifft es da eher, beschreibt es doch das Ziel, nämlich ein Refugium, einen Rückzugsort, zu finden.
Rund 100 Millionen Menschen, etwa so viel wie Ägypten Einwohner hat, leben nicht mehr da, wo sie eigentlich leben würden, wenn es denn keinen Grund zur Flucht gäbe.
Sie verlassen ihre Heimat, weil es nicht mehr geht. Sie fliehen vor Krieg – neben dem Ukraine-, dem Syrien- uand dem Jemen-Krieg gibt es noch über 20 größere bekannte Kriege oder bewaffnete Konflikte aktuell, einige seit Jahrzehnten. Sie fliehen vor Terror, wie er etwa an den Rohingya in Myanmar, den Uiguren in China oder Christen im Norden Nigerias und vielen weiteren verübt wird. Sie fliehen vor Dürren, Hunger und Naturkatastrophen. Manchmal gibt es gar kein Wasser mehr, ganze Gebiete trocknen aus, dann wiederum gibt es viel zu viel Wasser, ja, ganze Fluten, wie jetzt in Pakistan. Sie fliehen, weil sie nicht getötet werden wollen oder weil sie nicht selber töten wollen, weil sie ihren Glauben nicht ausüben dürfen, weil sie als Frau oder Mädchen keine Zukunft in einem rückständigen Macho-Regime wie in Afghanistan oder dem Iran sehen, weil sie frei wählen und gewählt werden wollen, weil sie ihre Meinung frei äußern wollen.
Vielleicht fliehen sie auch, weil sie wissen, wie viel besser es uns in Europa oder Nordamerika geht, weil sie für sich und ihre Kinder wirtschaftlich keine Chance in ihrem Heimatland sehen und deswegen ein besseres Leben wollen. Als Vater von zwei Kindern kann ich das nachvollziehen.
Wer bin ich, zu sagen: „Du bist ein ‚guter Flüchtling‘, weil Du politisch verfolgt wirst und Du ein ‚schlechter‘, weil Du ‚nur‘ aus wirtschaftlichen Gründen kommst?“ Nein, ich denke, uns in Europa, die wir die Welt über hunderte Jahre kolonisiert und ausgebeutet haben und noch immer mehrfach so viele Klimaschäden verursachen wie arme Länder – uns steht so ein Urteil nicht zu.
(Anrede)
Migration hat viele Gesichter, viele Ursachen und so viele Schicksale, wie es Migrantinnen und Migranten gibt. Preußen lud die in Frankreich verfolgten Hugenotten ein, von denen ein Nachkomme später Innenminister der Bundesrepublik Deutschland wurde. Ein badischer Revoluzzer von 1848 floh in die USA und wurde dort Innenminister. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind über 12 Millionen Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Richtung Westen geflohen. Ganze Siedlungen, wie in Kleve-Reichswalde oder Goch-Nierswalde haben sie errichtet. Ab den 1960er Jahren wurden Gastarbeiter angeworben. „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“, hat das der Schweizer Schriftsteller Max Frisch so treffend formuliert. Diese Erkenntnis brauchte lange, zu lange, ehe sich Deutschland eingestand, Einwanderungsland zu sein.
Heute verfügen über ein Viertel der in Deutschland lebenden Menschen über einen so genannten Migrationshintergrund. Ihre Großeltern, Eltern oder sie selbst sind nach dieser Definition nicht in Deutschland geboren worden.
Was wäre aus diesem Land geworden, wenn wir diese zugewanderten Menschen nicht gehabt hätten? Mit nur 84 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sind wir immer noch die viertstärkste Wirtschaftsmacht der Welt! Ich behaupte, das wären wir nicht, wenn wir nicht Zugewanderte gehabt hätten, die uns seit dem Wirtschaftswunder geholfen hätten, dieses Land wieder aufzubauen.
Ende des 19. Jahrhunderts war Deutschland die „Apotheke der Welt“. Vor Kurzem waren wir das wieder, als Ugur Sahin, der mit vier Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam und seine Frau Özlem Türeci, die in Siegen geboren worden ist, den besten Impfstoff gegen Covid erfunden haben.
Klar ist für mich: Wir wollen denjenigen, die Schutz brauchen, Asyl bieten. Das ist ein Menschenrecht. Denjenigen, die hier ein besseres Leben wollen – was legitim ist – müssen Möglichkeiten geboten werden, sich hier zu engagieren, zur Schule zu gehen, eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren und zu arbeiten – in etwa so, wie Kanada und andere Staaten uns das schon lange vormachen. Es ist auch nicht verwerflich, festzustellen, dass wir Arbeitskräfte aus dem Ausland dringend brauchen. Dann müssen wir ihnen allerdings auch alle Chancen bieten.
In dieser, wie in vielen anderen politischen und gesellschaftlichen Fragen, müssen wir uns ehrlich machen. Die aktuelle Weltlage erfordert Ehrlichkeit.
(Anrede)
Seit dem 24. Februar 2022, seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, haben sich wieder Millionen auf den Weg machen müssen. Wenige Tage später haben sich hunderte Reeserinnen und Reeser auf dem Marktplatz versammelt und ihre Solidarität bei einer vom jüngsten Ratsherrn der Stadt Rees, Dennis Gollasch, veranstalteten Kundgebung zum Ausdruck gebracht. Es wurde viel Geld gesammelt.
Mitgefühl und Solidarität sind groß bei den allermeisten Menschen hier. Das war so, als viele Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu uns kamen, später dann aus Afghanistan und Syrien, um nur einige Herkunftsländer zu nennen. Einige waren nur kurz hier, andere länger, wieder andere blieben und sind gar nicht mehr wegzudenken.
Zwei Zentrale Unterbringungseinrichtungen des Landes NRW befinden sich auf städtischem Gebiet. Ich finde es gut und richtig, dass es über die Interkulturellen Tage nun Räume – im wahrsten Sinne „Klangräume“ und „Begegnungsräume“ – gibt.
Selbstkritisch sage ich, dass wir, gerade von Migrantinnen und Migranten aus anderen Erdteilen zu wenig wissen. Mehr Austausch, mehr Kenntnis übereinander wären besser.
Da sind die Interkulturellen Tage Rees ein guter Anfang. Kultur ist die Brücke über alle Grenzen hinweg. Kultur ist der Kitt unserer Gesellschaft. Was gibt es verbindenderes als die Musik? Sie überwindet jede Sprachgrenze.
Ich freue mich auf das Konzert der Dehati-Brüder, das gleich stattfinden wird und über die vielen verschiedenen weiteren kulturellen und kulinarischen Angebote der kommenden Tage.
Im Namen der Veranstalter darf ich Sie einladen, die Wanderausstellung „An(ge)kommen – mit ‚ge‘ in Klammern -, Begegnungen, Geschichten“ anzuschauen. Schlemmen Sie „exotisch“ im „Mittags am Markt“, holen Sie sich geistige Nahrung in der Stadtbücherei, die etwas zum Thema „Interkulturelles“ zusammengestellt hat. Kurz und Gut: Genießen Sie „Kultur.Gut“, so das Motto der Veranstaltung.
Mein herzlicher Dank geht an den Verein Fremde werden Freunde, an European Homecare, das Berufsbildungszentrum, die Volksbank Emmerich-Rees eG, die Evangelische Kirche, die Caritas, den Verein Permakultur, das Niederrhein-Filmfestival und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung.
Ich erkläre die Internationalen Tage Rees für eröffnet und wünsche viel Freude!
Text und Foto: Bodo Wißen